Pralle Freude am Sehen – Saisonstart der Frankfurter Galerien am 9. September

Kann man denn in Frankfurt Kunst erleben, wundert sich eine Mitdreißigerin, die für das Kunsterlebnis nach Berlin pendelt. Ja, kann man. Spätestens mit dem Saison-Opening wird sie sich das Zugticket sparen. Das pralle Angebot der über 50 Kunst-Galerien und Off-Spaces, verteilt über die gesamte Stadt, zeigt nahezu alle Facetten zeitgenössischer Kunst.

Dabei bietet sich gerade am Wochenende der Besuch an, denn die Ausstellungen versprühen Vernissagen-Charme. Viele Galeristen setzen auf bewährte Künstler, mit denen sie neue und ungewöhnliche Wege beschreiten.

Künstler Philipp Kummer (links) und Galerist Andreas Greulich beim Aufbau des begehbaren Bildes Foto: Edda Rössler
Künstler Philipp Kummer (links) und Galerist Andreas Greulich beim Aufbau des begehbaren Bildes
Foto: Edda Rössler

In der Galerie Greulich ist Philipp Kummers Installation „sitting by the lake saving insects” ein absoluter Blickfang. Der in Leipzig lebende Künstler (1979), der bereits mehrfach mit Ausstellungen bei Greulich vertreten war, hat die Galerieräume in der Fahrgasse in ein begehbares Bild verwandelt. Angeraute cremefarbene Vlieswände, von denen Farbe tropft und ein faltenreicher Boden aus dem gleichen Material umhüllen wie ein gekonnter Bildhintergrund das Motiv. An der Wand ist ein Bildchen befestigt und sorgt für einen ornamentalen Akzent. Beim genaueren Hinsehen entdeckt man, dass es aus einer transparenten, mit zarten Pastelltönen bemalten Noppenfolie besteht und damit auf den Bildhintergrund sensibel reagiert. Wie im Goldenen Schnitt, in idealer Bildposition, ist ein kleines, weißgestrichenes Häuschen aus Holz in der Raummitte platziert. Sobald man diese Installation betritt, verändert sich das Bewusstsein und der Besucher spürt hautnah bildnerische Prozesse und die Magie der Farben, der Formen und des Materials. Doch Kummer, dessen Bildwelten Surrealismus und Popkultur zitieren, geht es um mehr als um das bloße sinnliche Erlebnis. Kopfüber prangt an der Decke ein schwarzes Boot aus Pappe. Die Gesetze der Schwerkraft sind aufgehoben und die Realität auf den Kopf gestellt. Brennende gesellschaftliche Themen wie Flucht, Vertreibung ebenso wie Nachhaltigkeit und die Frage nach Heimat begegnen in der installativen Malerei einer bildnerischen Ästhetik.

Galerist Philipp Pflug vor dem Gemälde „Energy Strategy“ von Jagoda Bednarsky Foto: Edda Rössler
Galerist Philipp Pflug vor dem Gemälde „Energy Strategy“ von Jagoda Bednarsky
Foto: Edda Rössler

Philipp Pflug, mit Anfang 30 noch immer einer der jüngeren Frankfurter Galeristen, lädt in seiner Galerie in der Berliner Straße, zur One-Woman Show mit großformatigen Bildern der in Berlin lebenden Künstlerin Jagoda Bednarsky (1988) ein. „Under the weather“ bietet surreale Bildwelten, in denen der Betrachter Gegenstände, Figuren oder Natur wie etwa Wellen und Gischt zu erkennen glaubt und bereits im nächsten Augenblick das Gesehene wieder in Frage stellt. Das reizvolle Wechselspiel zwischen Traum und Realität, leicht und schwebend inszeniert, fasziniert mit einer warmen und hellen Palette. Diese Bilder geben Rätsel auf wie etwa das Gemälde „Energy Strategy“. Wir erkennen eine riesige, grüne Comicfigur mit einer roten Palme im Hintergrund. Ob es sich jedoch um eine gefährliche oder sanfte Kreatur handelt, das können wir nicht abschätzen. Und genau das Vage macht die besondere Aura der Kunst von Jagoda Bednarsky aus.

Galerist Kurt Mühlfeld-Hemprich und einem Werk von Jub Mönster Foto: Edda Rössler
Galerist Kurt Mühlfeld-Hemprich und einem Werk von Jub Mönster
Foto: Edda Rössler

Bei Mühlfeld + Stohrer in der Fahrgasse leuchten die Galeriewände in oszillierenden Blautönen. Der Bremer Maler Jub Mönster (1949) ebenfalls ein langjähriger Künstler der Galerie, hat alte Stadtansichten von Paris, zumeist aus den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf weiße Resopalplatten übertragen. Er nutzt die Postkarte als Vorlage und überträgt das Motiv ohne Vorzeichnung in akribischen Prozessen mit einem zuvor angefeuchteten BIC-Kugelschreiber. Dieser Prozess erfordert äußerste Konzentration. Rutscht er beim Malen aus, entstehen Schlieren und die Arbeit ist vernichtet. Um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, arbeitet er mit einem Lederband, auf den Handrücken legt er einen Bambusstock, berichtet Galerist Kurt Mühlfeld-Hemprich. Die eindrucksvollen Gemälde mit den vielen blauen Strichen geben nahezu fotografische Ansichten einer versunkenen, in sich ruhenden Zeit wieder.

Die Galeristin Barbara von Stechow in ihrer aktuellen Ausstellung mit Werken von Helle Jetzig und Walter Schembs Foto: Edda Rössler
Die Galeristin Barbara von Stechow in ihrer aktuellen Ausstellung mit Werken von Helle Jetzig und Walter Schembs
Foto: Edda Rössler

Im Westend präsentiert Barbara von Stechow den von ihr geschätzten Dialog von Malerei und Skulptur. Über 20 Bilder von Helle Jetzig (1956) bespielen die Galerieräume. Die gewaltigen Farbexplosionen, die sich zumeist mit Architekturen und Straßenzügen auseinandersetzen, sind aus der Verbindung von Fotografie und Malerei entstanden. Auf Reisen aufgenommene Fotos nutzt Jetzig als Vorlage, um mit malerischen Eingriffen extreme Stimmungen, wahre Farbexplosionen, zu schaffen. Bodenständiger treten dagegen die Skulpturen des Holzbildhauers Walter Schembs (1956) auf, die sich mit der menschlichen Gestalt auseinandersetzen. Seinen abstrahierten Figuren verleiht er durch prägnante Gesichter Persönlichkeit.

Dass der ungarische Schriftsteller Péter Nádas (1942) auch ein Fotokünstler von Rang ist, davon berichten gleich zwei Ausstellungen in Sachsenhausen. Anlässlich dessen 80. Geburtstag zeigt die Ausstellungshalle 1A seltene Vintage-Abzüge früher Schwarzweiß-Fotos und die Galerie Peter Sillem farbige Nachtbilder, Stillleben und Selbstbildnisse.

Darüber hinaus warten noch viele, ebenso beachtliche Ausstellungen auf den Besuch der Kunstfreunde. „Freude am Sehen und gutes Wetter“, wünscht sich Galerist Andreas Greulich zum Saisonstart. Dass der Besucher bei all den interessanten Positionen Anlass zur Freude hat, kann man prophezeien. Da sollten selbst ein paar Regentropfen die Stimmung nicht stören.

Künstler Philipp Kummer (links) und Galerist Andreas Greulich beim Aufbau des begehbaren Bildes Foto: Edda Rössler
Künstler Philipp Kummer (links) und Galerist Andreas Greulich beim Aufbau des begehbaren Bildes
Foto: Edda Rössler

Weitere Informationen über die Kunst-Angebote, auch über die „Walks“, geführte Galeriebesuche, unter frankfurtexperience.art

Text und Fotos von Edda Rössler
Veröffentlicht am 8. September 2022 in Frankfurter Neue Presse