Transit von der deutschen Gegenwart in eine ungewisse Zukunft

Ausstellung ist nichts für schwache Nerven – Die Zeitenwende auf der Leinwand – Ein Kuss wird zur Alptraumwelt

Künstler Dieter Mammel in seinem Berliner Atelier © Dieter Mammel, Fotografin: Claudia Schick
Künstler Dieter Mammel in seinem Berliner Atelier
© Dieter Mammel, Fotografin: Claudia Schick

„Transit – Zwischen Welten“ lautet das Motto der Ausstellung von 14 Gemälden des in Frankfurt am Main und in Berlin lebenden Dieter Mammel (1965) in der Westend Galerie Hübner + Hübner. Seit seiner One-Man-Show vor zwei Jahren, die den verheißungsvollen Titel „Du bist nicht allein“ trug, ist eine Umkehr eingetreten. Denn „Transit“ signalisiert Übergang, und ein Gelingen der Reise ist nicht Sicht.

Seismografisch reagiert der Künstler auf gesellschaftliche Strömungen, die sich mit „Zeitenwende“ und „German Angst“ beschäftigen. Bot sich zu Beginn der Pandemie noch Empathie als Trostpflaster an, befinden sich jetzt Mammels Protagonisten, oft Stellvertreter des Künstlers, im freien Fall. Ein Zurück gibt es nicht mehr, da sind alle Zelte abgebrochen, unsere Gegenwart ist dramatisch und die Zukunft ungewiss. Dieser Transit führt ins Nirvana, schreit es dem Betrachter entgegen.

Hat sich die Stimmung im Oeuvre fundamental geändert, so ist eine Konstante erhalten. Dieter Mammel ist seinem unverkennbaren Stil treu geblieben, der sich zunächst im Schaffensprozess selbst manifestiert. Gemalt wird nur auf dem Boden, auf einer zuvor befeuchteten Leinwand, auf die er Tusche oder Gouache tropft. Mammel greift dann von allen vier Seiten in das Bildgeschehen ein. Diese dialogischen Prozesse sind fordernd, da er stets mit Zufällen konfrontiert wird. Das ist ungefähr so, als würde ein Balletttänzer plötzlich auf einer Eisfläche tanzen. Dass es dennoch zu klar umrissenen Figuren und einer eindeutigen Bildaussage kommt, ist neben der Erfahrung vor allem dem zeichnerischen Talent des Künstlers geschuldet. Mammels Technik lässt sich auf Risiken ein, letztendlich gewinnt jedoch der Künstler, weil er einen kühlen Kopf behält und eine Botschaft intendiert.

Galerist Ernst Hübner vor Dieter Mammels Gemälde CUT 2 Fotografin Edda Rössler
Galerist Ernst Hübner vor Dieter Mammels Gemälde CUT 2
Fotografin Edda Rössler

Diese spontane Malweise, spätestens seit dem Action Painting im vergangenen Jahrhundert ein fester Bestandteil der Malerei, öffnet sich dem Unterbewussten und subjektivem Empfinden. Das hallt zwar noch durch die Bildwelten Mammels, der aber anders als etwa Jackson Pollock zugunsten der Figur und zugunsten eines gesellschaftlichen Statements kontrollierend eingreift. Kunsthistoriker lieben Labels, auch ein Maler dieser Klasse wird da schnell eingefangen, und so feiert man seine Gemälde als romantische. Der bei Hübner + Hübner gezeigte „Transit“ zitiert in zahlreichen Ansätzen ikonische Werke der klassischen Malerei, die beileibe nicht nur in das enge Korsett der Romantik passen.

Dieter Mammel  CUT 2, 2021 Tusche auf Leinwand 65x150 cm Foto © Dieter Mammel, Fotograf: Dieter Mammel
Dieter Mammel 
CUT 2, 2021
Tusche auf Leinwand
65×150 cm
Foto © Dieter Mammel, Fotograf: Dieter Mammel

Herausragend ist etwa der Akt einer liegenden, schwarzen Frau, die den Betrachter selbstbewusst anblickt. Großformatig verteilt Mammel ihren Körper über das gesamte Bild, so als würde ihre souveräne Präsenz den Rahmen sprengen. Ihr Körper taucht in der oberen Bildhälfte in einen schwarzen Hintergrund, die untere Hälfte, in herrlich schwungvollen Linien angedeutet, schwebt auf hellem Boden. Weder das Dunkle, noch das Helle halten diese Figur gefangen, die sich selbst definiert. Galerist Hübner verrät an dieser Stelle, dass der Künstler hier eine Berliner Kollegin darstellt, deren Vater aus Ghana stammt und die Mutter Schweizerin ist. Erfahrene Museumsbesucher wird gleich auffallen, dass es sich um die spiegelverkehrte Antwort auf die Darstellung einer Odaliske des klassizistischen Malers Jean-Auguste-Dominique Ingres handelt. War Ingres Figur dem Klischee der hellhäutigen Haremsdame verhaftet, das auch von Malern wie Henri Matisse zitiert wurde, so verwandelt sie sich bei Mammel in eine starke Frau mit Wurzeln in verschiedenen Kulturen. So schön und verführerisch ihr Körper ist, der gehört zuallererst ihr.

Happy End, 2022 Tusche auf Leinwand 100x80 cm Foto © Dieter Mammel, Fotograf: Dieter Mammel
Happy End, 2022
Tusche auf Leinwand
100×80 cm
Foto © Dieter Mammel, Fotograf: Dieter Mammel

Auch das beliebte Motiv des Kusses, wie man es von Gustav Klimt oder vom Pop-Artisten Roy Lichtenstein kennt, greift Mammel auf, um es radikal auf den Kopf zu stellen. Sein Kuss gleicht einer Allegorie, in der jedoch nicht ein spontaner Liebestaumel oder pure Sinnesfreude im Mittelpunkt stehen. Dieser Kuss erinnert an die Alptraumwelten eines Edvard Munch und ist ein Schrei nach so vielem, nach Heimat, Empathie, Zuversicht und Geborgenheit. All diese Sehnsüchte scheinen in Dieter Mammels Bildwelten in weite Ferne gerückt.

A Question of Time, 2022 Tusche auf Leinwand 100x75 cm Foto © Dieter Mammel, Fotograf: Dieter Mammel
A Question of Time, 2022
Tusche auf Leinwand
100×75 cm
Foto © Dieter Mammel, Fotograf: Dieter Mammel

Die Ausstellung „Transit“ ist nichts für schwache Nerven und genau aus diesem Grund sehenswert.

Dieter Mammel „Transit – Zwischen Welten“ bei Hübner + Hübner, Grüneburgweg 71, Frankfurt am Main, noch bis zum 19.11.2022
Weitere Informationen unter galerie-huebner.de

Von Edda Rössler
Veröffentlicht am 2.11.2022 in Frankfurter Neue Presse