Zwischen Bar Mitzwa und Great Gatsby – Foto-Ausstellung zeigt Momentaufnahmen einer jüdischen Welt und Leuchtbilder wie Theater-Szenen

Die beiden Künstler Sascha Neroslavsky mit seinen Schwarz-Weiß-Fotos im Hintergrund. Daneben Viktor Naimark mit dem Farbfoto „Roter Wind“ (v.l.) Foto: Edda Rössler
Die beiden Künstler Sascha Neroslavsky mit seinen Schwarz-Weiß-Fotos im Hintergrund. Daneben Viktor Naimark mit dem Farbfoto „Roter Wind“ (v.l.)
Foto: Edda Rössler

Tradition mit Zukunft, auch das ist eine mögliche Interpretation von „Continuous“. In dem Ausstellungstitel verbergen sich Beständigkeit und zugleich Hoffnung auf weiteres Gelingen. Unter dieser Ägide steht auch das künstlerische Schaffen der beiden jüdischen, aus Russland stammenden Künstler Viktor Naimark und Sascha Neroslavsky, deren Fotografien die Galeriewände des BBK Frankfurt (Bund Bildender Künstler) bespielen. Die Ausstellung ist ein integraler Bestandteil des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“, das 2021 gefeiert wurde. Aufgrund der Pandemie verschoben sich einige Veranstaltungen und „Continuous“ setzt einen würdigen Schlusspunkt.

Viktor Naimark (59) stammt aus Sankt Petersburg und ist Absolvent der Repin-Kunstakademie. Die NS-Vergangenheit belastete seine Familie schwer, wurde die Familie seiner in Prag geborenen Mutter in Auschwitz ermordet. Zudem starben Familienmitglieder des Vaters in Leningrad aufgrund der Belagerung der deutschen Armee während des Zweiten Weltkrieges. Sascha Neroslavsky (67) studierte Malerei und Grafik in Moskau. Beide Künstler erfuhren aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Religion in Russland Oppressionen, was zur Immigration nach Deutschland führte. Sie lernten sich 1990 in der jüdischen Gemeinde in Frankfurt kennen, stellten schon ein Jahr später gemeinsam aus und sind seitdem befreundet. Sie und ihre Familien haben längst Wurzeln in Frankfurt am Main geschlagen.

Ihnen sind die aktuellen antisemitischen Vorfälle auf der documenta fifteen unbegreiflich. Während Sascha Neroslavsky zurückhaltend reagiert „Kunst hat bereits genügend Probleme, so etwas brauchen wir nicht“, spricht Viktor Naimark, der zudem als Vorstand des BBK Frankfurt fungiert, Klartext. „Das ist unprofessionell. Es gab genügend Mittel zur Kontrolle und zur Reflexion. Dass das nicht funktionierte, finde ich skandalös.“

Keine Skandale, aber beeindruckende künstlerische Positionen bieten sie in ihrer aktuellen Ausstellung mit rund 40 Werken. Neroslavsky präsentiert neben großformatigen schwarzweiß Fotos auch ausgewählte Farbfotografien. Seine Sujets sind Porträts und Alltagsszenen, ebenso wie Aufnahmen religiöser Handlungen wie die Bar Mitzwa oder Brit Mila (Beschneidung). Seine Interpretationen wirken malerisch, wobei ihm der Einsatz von Photoshop ein hilfreiches Mittel ist. Es scheint, als habe er einen flüchtigen Moment für die Ewigkeit gebannt, in der abgebildeten Gegenwart schleicht sich Vergangenheit ein. Ein Parade-Beispiel seiner Technik findet man in der Fotografie „Vorwärts“, in der er junge jüdische Frauen im New Yorker Brighton Beach abbildet. Sie schlendern im forschen Schritt auf der Meerespromenade. Das Bild der Unbeschwertheit kontrastiert er mit einer älteren Frau, die im Hintergrund auf einer Bank sitzt. „So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu“. Das Foto wirkt wie eine fotografische Interpretation des bekannten Zitates von F. Scott Fitzgerald aus dem Roman „The Great Gatsby“. Aus der Fülle der empathischen Porträts fällt der Blick auf Neroslavskys Interpretation des Musikers Giora Fidman. Mehr Seele im Bild ist kaum vorstellbar.

Die beiden Künstler Viktor Naimark (neben dem Foto „Roter Wind“) und Sascha Neroslavsky, im Hintergrund seine Schwarz-Weiß- Fotografien (v.l.) Foto: Edda Rössler
Die beiden Künstler Viktor Naimark (neben dem Foto „Roter Wind“) und Sascha Neroslavsky, im Hintergrund seine Schwarz-Weiß- Fotografien (v.l.)
Foto: Edda Rössler

Viktor Naimarks Farbfotografien verabschieden sich von der Darstellung der Realität und laden in ein fantasievolles Reich der Träume ein. Der Künstler errichtet im Atelier Installationen, die einer Theaterbühne gleichen und jeweils einem Thema unterworfen sind. Die Bandbreite der Darstellungen ist groß. So lehnen sie sich an archaische Darstellungen in der Bibel an, aber auch Nachdenkliches, Gefühle und Musik spielen eine Rolle. Aus analogen Materialien wie Papier, Folien und Pappe baut er Szenenbilder, die er beleuchtet und fotografiert. Mit diesen „Leuchtbildern“ schafft er künstlerische Welten, die selbst bei der zweidimensionalen Darstellung äußerst räumlich wirken. Egal, ob „Hagar“, in der Naimark sich auf die biblische Sklavin, die in die Wüste geschickt wurde, bezieht, „Lichttanz“ oder die frechen „Paper People“ man taucht gerne in die Zauberwelten Naimarks an.

Ebenso erfrischend wie Naimarks humorvolle Interpretation einer „Stadtromanze“, bei der sich zwei Menschen im Dickicht der Hochhäuser begegnen, sind auch einige Motive Neroslavkys wie etwa das Treffen eines älteren Powerpaares „An der Theke“. Wer gewinnt hier wohl den Machtkampf, fragt man sich.

Keinen Machtkampf, aber ein künstlerischen Duell mit Niveau erwartet den Besucher der Ausstellung „Continuous“, die noch bis zum 28. August geöffnet ist.

Zu der Ausstellung ist ein begleitender Katalog erschienen.

Weitere Informationen unter bbk-frankfurt.de

Text und Foto von Edda Rössler
Am 20. August 2022 veröffentlcht in Frankfurter Neue Presse